
Not in Gaza "Es reicht hinten und vorne nicht"
Erste Hilfen erreichen wieder Gaza - doch das sei nicht genug, sagt Martin Rentsch vom Welternährungsprogramm. Er fordert für die UN einen dauerhaften Zugang und ein System, mit dem die Lieferungen sicher verteilt werden können.
tagesschau24: Die Hilfe für die Menschen im Gazastreifen kommt nur sehr langsam ins Rollen. 170 Lastwagen mit Hilfsgütern sollen den Grenzübergang Kerem Schalom passiert haben. Können Sie das für uns einordnen? Was heißt das im Vergleich zu dem, was eigentlich gebraucht wird?
Martin Rentsch: Nach elf Wochen Blockade können wir wieder in geringem Umfang helfen. Das ist erst mal gut. Aber angesichts der großen Not, die in Gaza herrscht, ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben jetzt gesehen, wie jeden Tag Lastwagen hineingefahren sind. Wir konnten eine Handvoll Bäckereien wieder kurzzeitig öffnen.
Aber man muss einfach sagen: Es reicht hinten und vorne nicht. Es reicht nicht für alle Leute und wir brauchen einen dauerhaften Zugang von großen Mengen von Hilfe, die in den Gazastreifen hineinfahren müssen. Und das funktioniert derzeit noch nicht.
tagesschau24: Braucht es eher 400, 500 Lkw - oder ab wann würde es anfangen, wirklich zu helfen?
Rentsch: Vor Ausbruch der Kampfhandlungen waren es 700 Lkw: 200 humanitäre, 500 kommerzielle, die jeden Tag in den Gazastreifen hinein gefahren sind. Das heißt, um die akute Not zu lindern, braucht es mindestens Hunderte Lkw, die jeden Tag nach Gaza hineinfahren. Aber man darf nicht nur Lkw zählen.
Man muss auch sicherstellen, dass die Hilfe innerhalb von Gaza sicher verteilt werden kann, dass es ein sicheres System gibt für die Menschen, die wir unterstützen wollen - also auch für die Helfer, die diese gefährliche Arbeit tun.
Langwierige Prozesse, gefährliche Arbeit
tagesschau24: Wie gefährlich ist die Arbeit vor Ort? Lässt das israelische Militär die Helfer jetzt gerade gewähren?
Rentsch: Gaza ist Evakuierungsgebiet. Gaza ist Kampfgebiet. Natürlich muss jede Hilfslieferung, die wir vom Grenzübergang Kerem Schalom abholen, um sie dann in unsere Warenlager zu fahren und von dort aus die Verteilung zu organisieren, sehr eng mit den israelischen Behörden koordiniert werden.
Aber die Prozesse sind extrem langwierig. Die Routen, die wir zugewiesen bekommen, sind gefährlich. Es gibt auch aktive Kampfhandlungen und das Risiko für unsere Helfer als auch für die Menschen, die zu den Verteilpunkten kommen, ist extrem hoch.
tagesschau24: Woran fehlt es gerade am meisten? An welchen Hilfsgütern?
Rentsch: Es fehlt in Gaza an allem. Das sagen wir ja im Prinzip schon seit Monaten. Neben den akuten Mitteln der Ernährungshilfe - um eben eine Hungersnot weiterhin abzuwenden - brauchen wir natürlich medizinische Güter. Wir brauchen Treibstoff, wir brauchen Brennstoff - alles, was es zum Leben braucht. Und dazu brauchen wir auch mehr Grenzübergänge, die offen sind.
Wir haben gefordert, einen im Norden, einen im Süden aufzumachen, um diese Verfahren, die ich gerade beschrieben habe, zu beschleunigen. Zugangshindernisse müssen abgebaut werden - und natürlich fordern wir auch, keine Angriffe während der Hilfslieferungen zu tun. Und im größeren Bild braucht es neue Bemühungen für einen Waffenstillstand, während dem wir ja gezeigt haben, was möglich ist und die negativen Entwicklungen wieder zu einem gewissen Teil zurückrollen konnten. Und natürlich müssen die Geiseln bedingungslos freigelassen werden.
tagesschau24: Sie wirken jetzt aber gerade nicht, als würde die israelische Seite ihren Forderungen wirklich entgegenkommen.
Rentsch: Wir haben im Prinzip während der Waffenruhe gezeigt, was wir tun können. Wir haben gezeigt, dass es keine logistischen Hindernisse gibt, dass wir bereit sind zu helfen. Wir haben 130.000 Tonnen Hilfsgüter in der Region, entweder schon an den Grenzübergängen oder im Zulauf. Wir sind bereit zu helfen.
Was nicht funktioniert, ist das System der Verteilung und der Hilfe innerhalb von Gaza. Und da brauchen wir natürlich auch die weitere Unterstützung der israelischen Behörden, die für diese Verfahren verantwortlich sind und sie beschleunigen müssen. Das brauchen die Menschen in Gaza gerade am dringendsten.
Menschen dort helfen, wo sie sind
tagesschau24: Jetzt soll sich die Verteilung ja laut israelischer Armee vor allem auf vier große Verteilungszentren im Süden des Gazastreifens konzentrieren. Wie kann man denn die Betroffenen von dort aus erreichen?
Rentsch: Das fragen wir uns auch. Wir lehnen dieses Modell der Hilfe ab, weil sie Menschen in Gaza gefährdet, weil sie Helfer gefährdet. Aktuell haben wir 400 Verteilpunkte für humanitäre Hilfe in Gaza. Diese sollen auf wenige reduziert werden.
Es gibt aber Tausende Menschen - Waisenkinder, Leute mit Amputationen, ältere Menschen - die gar nicht die Möglichkeit haben, zu diesen Verteilpunkten zu kommen. Wir als humanitäre Gemeinschaft sagen: Wir müssen den Menschen dort helfen, wo sie eben sind.
Das sind die guten Prinzipien der humanitären Hilfe, die seit Jahrzehnten bewährt sind. Und die werden durch das aktuelle Modell, was dort vorgeschlagen wurde, nicht eingehalten. Deswegen werden wir uns auch als UN an keinem Plan beteiligen, der diese Prinzipien der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität nicht wahrt.
tagesschau24: Was glauben Sie denn? Warum tut Israel das jetzt gerade?
Rentsch: Ich kann da nur mutmaßen. Es kommt einer Militarisierung der humanitären Hilfe gleich. Das ist nicht vereinbar mit dem, wie wir humanitäre Hilfe leisten. Wir sind unbewaffnet. Wir genießen dadurch die Akzeptanz der Zivilbevölkerung. Es ist auch unsere Lebensversicherung, dass wir dort eben nicht mit einer Konfliktpartei assoziiert sind und können so sicher Hilfe verteilen.
"Es gibt in Gaza keine sicheren Zonen"
tagesschau24: Jetzt hat das israelische Militär die Menschen dazu aufgerufen, unter anderem aus den Großstädten Chan Junis und Rafah nach Al-Mawasi im Süden bzw. Südwesten des Landes zu fliehen. Das soll eine humanitäre Zone sein. Wissen Sie, wie die Lage dort ist? Können die Menschen dort mit einer möglichen Fluchtwelle umgehen?
Rentsch: Die Menschen in Gaza sind seelisch und physisch komplett am Ende. Sie haben gar keine Möglichkeit mehr, das, was dort passiert, zu bewältigen. Sie müssen sich vorstellen, die Menschen leben permanent mit Drohnen, mit Bomben, mit dem Tod. Jeder hat Angehörige verloren, ist acht, neun, zehn Mal vertrieben worden in Zonen, die angeblich sicher sein sollen.
Wir wissen aber durch Vorfälle, die uns selbst betroffen haben, dass diese Zonen alles andere als sicher sind, dass dort Kampfhandlungen stattfinden. Es gibt in Gaza keine sicheren Zonen. Deswegen ist die Hilfe, die wir beabsichtigen reinzubringen und die Menschen sicher zu versorgen, so wichtig. Denn dieses System funktioniert derzeit nicht.
tagesschau24: Es macht den Eindruck, als würden die israelische Regierung und die US-Regierung gerade gezielt Misstrauen gegen die UN streuen.
Rentsch: Das mag sein. Aber wir haben ein System, das funktioniert. Wir haben gezeigt, dass wir das können. In quasi jeder Krise während der letzten 60 Jahre haben die UN nach den bewährten Prinzipien Hilfe verteilt, Hilfe geleistet, Linderung geschafft. So auch in Gaza während der Waffenruhe. Und das wollen wir weiterhin tun. Und deswegen haben wir unsere Operation auch nicht gestoppt, sondern helfen weiter. Und wir hoffen, dass wir das auch weiter können.
Das Interview führte André Schünke, tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Fassung leicht redigiert und gekürzt.