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Thüringen Immer weniger Kinder in Thüringen: Ein ostdeutsches Phänomen?

Stand: 30.05.2025 12:53 Uhr

In Weimar sollen bald fünf Kitas schließen. Immer mehr Einrichtungen in Thüringen geht es so. Die Kommunen heben verteidigend die Hände und verweisen auf den deutlichen Geburtenrückgang. Warum das so ist, erklärt Dr. Sebastian Köllner von der Serviceagentur Demografischer Wandel im Infrastrukturministerium.

Von David Straub, MDR THÜRINGEN

Herr Dr. Köllner, seit 1990 hat Thüringen etwa eine halbe Million Einwohner verloren. Konnte man das als Demograf kommen sehen?

Köllner: Man konnte das 1990 so nicht kommen sehen. Aber die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen nach der Wiedervereinigung sorgten für gravierende Umbrüche, auch demografisch.

Haben wir es hier also mit einem ostdeutschen Phänomen zu tun?

Teils, teils. Die zentrale Ursache ist tatsächlich ein Phänomen, was wir überall in Ostdeutschland sehen: Das ist das "demografische Echo". Wir meinen damit die schwach besetzten Jahrgänge von Anfang und Mitte der 90er Jahre. Die sind jetzt in der heißen Familiengründungsphase - also so um die 30 - und gerade dabei, ihre Familie zu gründen. Und von diesen Jahrgängen fehlen heute die Kinder.

Zur Person
Dr. Sebastian Köllner ist Referent in der Abteilung 46 im Thüringer Infrastrukturministerium, das vom BSW-Minister Steffen Schütz geleitet wird. Die Abteilung beschäftigt sich mit Demografiepolitik und wird gemeinhin als "Serviceagentur Demografischer Wandel" bezeichnet.

Sie meinen, dass die Menschen in der Wendezeit aufgrund der Unsicherheiten lieber abgewartet und kein Kind bekommen haben?

Korrekt. Wir sprechen von einer "halbierten" Generation. Die Zahl der Geburten betrug im Vergleich zu vor der Wiedervereinigung tatsächlich nur etwa die Hälfte. Wir hatten vorher Geburtenzahlen von bis zu 35.000 Kindern pro Jahr in Thüringen. Mitte der Neunziger waren es unter 15.000.

Neben diesem Echo: Was sind andere Faktoren, warum wir gerade diesen Geburtenrückgang erleben?

Neben diesem zentralen Faktor hatten wir in Thüringen auch eine ganz starke Abwanderung. Insbesondere von jungen, gut ausgebildeten Menschen - insbesondere von jungen Frauen, die für sich damals keine wirtschaftliche Perspektive gesehen haben. Wir müssen uns erinnern: die Arbeitslosigkeit betrug damals fast 20 Prozent in Thüringen.

Wir leben in einer Welt multipler Krisen. Dr. Sebastian Köllner |

Und es gibt noch einen Punkt: Die durchschnittliche Kinderzahl, die eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommt, ist in den letzten Jahren unerwarteter Weise stark zurückgegangen. Es ist schwierig, hier Erklärungsansätze zu finden. Einer, den ich persönlich für recht plausibel halte, ist: Wir leben in einer Welt multipler Krisen, haben Kriege, Inflation, wirtschaftliche Unsicherheiten. Was alles dazu geführt hat, dass Paare ihren Kinderwunsch aufschieben - vorläufig aufschieben und dann aber unter Umständen auch gegebenenfalls gar nicht realisieren. Das erleben wir aber in ganz Deutschland und auch international.

Wie stark ist das Stadt-Land-Gefälle denn in Thüringen beim Geburtenrückgang?

Der Geburtenrückgang findet überall in Thüringen statt, auch in den Städten. Diesen Widerspruch sollte man nicht aufmachen und betonen.

Aber in den Städten sinken die Einwohnerzahlen nicht wie auf dem Land, oder?

Das schon. Das liegt aber weniger an der aktuellen Geburtenentwicklung. Sondern daran, wohin junge Leute im Familiengründungsalter eher ziehen. Wir sehen gerade in den kreisfreien Städten in Thüringen eine Altersstruktur, die noch deutlich jünger ist als in den Landkreisen.

Mittelfristig bin ich etwas optimistischer. Dr. Sebastian Köllner |

Können Sie denn vorhersagen, wie sich die Geburtenentwicklung in den kommenden Jahren hier in Thüringen kurz bis langfristig entwickeln wird?

Diese Frage ist noch völlig offen und nicht einfach zu beantworten. Ich persönlich gehe davon aus, dass die Geburtenzahlen in den nächsten Jahren weiter relativ niedrig bleiben werden. Mittelfristig bin ich etwas optimistischer, weil wir dann wieder etwas stärker besetzte Altersjahrgänge haben, die dann in die heiße Familiengründungsphase kommen. Und es besteht die Hoffnung, dass diese Zeit der multiplen Krisen und diese große Verunsicherung bei potenziellen Eltern ein Stück weit abnehmen werden.

Aber das aktuelle Jammertal müssen wir erstmal durchschreiten. Ob wir jetzt den Scheitelpunkt bereits erreicht haben? Das ist offen.

Sie haben sich leicht optimistisch geäußert. Es könnte aber auch viel schlimmer kommen?

Ich denke nicht, dass es noch wesentlich schlimmer kommt. Ich denke, dass es erst einmal kurzfristig auf einem recht niedrigen Niveau verharren wird und mittelfristig etwas positiver werden könnte.

Demografie ist ein Querschnittsthema Dr. Sebastian Köllner |

Der Aufhänger für unser Gespräch ist, dass immer wieder über Kitaschließungen geredet wird. Das ist ein Punkt im Leben vieler Menschen, wo man den demografischen Wandel auf einmal wirklich spüren kann. In welchen anderen Bereichen spürt man ihn aber noch?

Demografie ist ein Querschnittsthema. Es ist in quasi allen Lebensbereichen spürbar. Bei den Schulen dann etwas zeitversetzter, wir spüren das im Bereich Pflege, medizinische Versorgung, generell beim Thema Fachkräftemangel. Wir spüren es aber auch beispielsweise beim Thema Abwasser.

Das müssen Sie erklären…

Die in den Neunzigern gebauten oder sanierten Abwassersysteme wurden für eine ganz andere Bevölkerungszahl gebaut. Jetzt muss man aufwendig nachjustieren, um dieses System im regulären Betrieb zu halten.

Das heißt, der Aufwand für die Kommunen steigt generell, weil sie Infrastruktur am Laufen halten müssen für immer weniger Leute.

Ja, der demografische Wandel wird sich mittelfristig ja nicht umkehren. Wir werden in Thüringen immer weniger und älter.

Wenn ich jetzt als junger Papa in der Stadt lebe, wo zum Beispiel drei Kitas schließen – dann bin ich noch relativ privilegiert, weil es noch andere Einrichtungen gibt. Wenn ich jetzt in einem Dorf lebe, wo nächstes Jahr vielleicht nur noch zwei Kinder übrig sind, sieht die Sache ganz anders aus. Müssen Kommunen in solchen Situationen nicht alles dafür tun, diese Infrastruktur zu erhalten, weil sonst der Ort noch unattraktiver wird?

Das kann man durchaus so sehen. Weil natürlich infrastrukturelle Angebote darüber entscheiden, ob es für mich als junge Familie lebenswert ist - oder ob ich sage: Nein, mir fehlen hier zentrale Einrichtungen.

Aber ich bin mir auch sicher, dass in jeder Kommune hart darum gerungen wird, um eine Kitaschließung zu vermeiden. Diese Entscheidung macht sich keiner leicht.

Kita am Goethepark in Weimar

Plakate hängen an der Kita "Am Goethepark" in Weimar. Die Einrichtung ist eine von fünf in der Stadt, die geschlossen werden soll.

Das macht es schwierig, die richtige Entscheidung zu treffen. Dr. Sebastian Köllner |

Wäre es eine gute Lösung aus Sicht des Demografen, wenn man ganz viel Geld in eine Einrichtung steckt - auch, wenn es sich eigentlich gar nicht finanziell trägt? Oder muss man dann sagen: Dann müssen ein paar Eltern halt weitere Wege auf sich nehmen?

Das ist eine politische Entscheidung und dazu möchte ich mich auch nicht weiter aus dem Fenster lehnen. Es ist immer ein Abwägungsprozess: Stecke ich das Geld lieber in Kitas oder zum Beispiel in den ÖPNV. Fakt ist, dass die finanzielle Situation auf Landes- und kommunaler Ebene angespannt ist. Das macht es schwierig, die richtige Entscheidung zu treffen.

Man sieht beispielsweise in Erfurt immer wieder Plakate für freie Kita-Plätze. Vor wenigen Jahren war das noch ganz anders. Das werden wir doch in drei bis fünf Jahren verstärkt auch bei den Schulen erleben oder?

Es gibt immer wieder unerwartete, externe Ereignisse. Zum Beispiel der starke Zuzug von Geflüchteten aus der Ukraine 2022. Jetzt zu sagen, weil es heute so ist, ist es sicher in sechs Jahren so, ist vielleicht ein bisschen kurz gesprungen. Zeitversetzt werden wir die geringen Geburtenzahlen aber trotzdem auch an den Schulen merken, ja.

Stadt Weimar entscheidet über Kita-Schließungen

Stichwort Migration: Festhalten können wir wahrscheinlich, dass es ohne den Zuzug vieler Geflüchteten ab 2015 und 2022 jetzt noch viel schlechter aussähe bei den Geburten oder?

Ja, wir wären in Thüringen weniger und wir hätten auch ein höheres Durchschnittsalter. Weil die Zuwanderer im Durchschnitt deutlich jünger sind.

Was kann denn die Politik tun, damit sich die Geburtenzahlen wieder nach oben bewegen?

Es gilt jetzt, familienfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Dass in allen Bereichen Familien im Mittelpunkt stehen. Eben die Kitas, die Schulen, der ÖPNV, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Sonst wird die Stimmung schlechter.

Auf Landesebene haben wir da auch einiges geschafft. Wir haben beispielsweise die Thüringer Familien-App oder die Mehrkindfamilienkarte. Wir verantworten bei der Serviceagentur aber auch eine Mikroförderung, wo man beispielsweise in Dorfgemeinschaftshäusern Einrichtungsgegenstände oder gewisse Technik fördern lassen kann. Damit man nicht nur eine sanierte, bauliche Hülle hat, sondern dieses Dorfgemeinschaftshaus auch mit Leben füllen kann. Wir haben also einige kleinere und größere Bausteine, die dafür sorgen sollen, dass Thüringen auch weiterhin lebenswert und familienfreundlich ist. Wir möchten hier die Haltefunktion insbesondere in ländlichen Räumen unterstützen.

MDR (dst)