
Mecklenburg-Vorpommern Sanktionen gegen Schattenflotte: Ostsee wird "Hotspot" der Auseinandersetzung
Das neue Sanktionspaket der EU nimmt die Schattenflotte und Russlands Öl-Exporte ins Visier. Die laufen großteils über die Ostsee. Dort nehmen die Spannungen zwischen Russland und den NATO-Ostsee-Anrainern zu, wie jüngste Vorfälle zeigen.
Mit dem in Kraft tretenden 17. Sanktionspaket geht die EU massiv wie nie zuvor gegen die Schattenflotte und russische Öl-Exporte vor. Zu den bislang 79 von der EU sanktionierten Schiffen kommen nun laut EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas knapp 200 weitere hinzu. Die nun sanktionierten Schiffe hätten Russland geholfen, das von der EU verhängte Öl-Embargo zu umgehen, so die Begründung der Kommission. "Wladimir Putin spielt offenbar weiter auf Zeit", sagte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in Brüssel. "Das wirksamste Sanktionsmittel ist das weitere Abschneiden der Mittelzuflüsse, der Geldzuflüsse aus Energieverkäufen."
Der Strom von Geld, der schon geringer geworden ist, muss noch mehr zu einem Rinnsal werden."
— Boris Pistorius (SPD), Verteidigungsminister
Ostsee wichtige Route für russische Öl-Exporte
Etliche der nun sanktionierten Tanker fahren mehr oder weniger regelmäßig entlang der deutschen Ostseeküste. Start- oder Zielpunkt: Einer der beiden großen russischen Ostsee-Energiehäfen Primorsk und Ust-Luga. Der Seeweg durch die Ostsee ist ungeachtet der bisherigen Maßnahmen des Westens gegen den russischen Ölhandel eine wichtige Route für russische Öl-Exporte.
- Mit den Sanktionen reagiert die EU auf die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 und die Vollinvasion Russlands in die Ukraine seit dem 24. Februar 2022. Mit dem 14. Sanktionspaket im Juni 2024 führte die EU erstmals auch Zwangsmaßnahmen gegenüber einzelnen Schiffen ein, die zu Russlands Krieg gegen die Ukraine beitragen.
- Die EU verfolgt damit mehrere Ziele. Sie will die Kosten für Russland erhöhen, indem mit diesen Schiffen keine üblichen Geschäfte mehr in der EU oder mit EU-Unternehmen getätigt werden dürfen. Zugleich soll die Zahl der Schiffe der russischen Schattenflotte, die russisches Rohöl transportieren können, verringert werden. Außerdem zielen die Maßnahmen darauf ab, die Risiken einzudämmen, die von den oft veralteten und nicht ausreichend versicherten Schiffen der Schattenflotte für die Sicherheit des Seeverkehrs und die Meeresumwelt ausgehen.
- Für die sanktionierten Schiffe dürfen keine Dienstleistungen wie etwa Bunkerung, Schiffsversorgung, Frachtverladung und Schleppdienste erbracht werden, auch das Anlaufen von EU-Häfen ist untersagt.
"Ostseeraum wird weiter an Bedeutung gewinnen"
70 bis 80 Prozent des gesamten russischen Rohölexports werden laut Schätzungen über die Ostsee abgewickelt. "In der ersten Hälfte 2024 waren das schätzungsweise 75 Millionen Barrel - jeden Monat", sagt Sanktionsexperte Sascha Lohmann von der Stiftung Wissenschaft und Politik dem NDR. Russland habe sehr viel investiert in diese Flotte. "Es ist für die russische Führung sehr wichtig, diese Transitroute durch die Ostsee ungehindert nutzen zu können." Genau darauf zielten die Sanktionen der EU ab. "Deswegen wird der Ostseeraum weiter an Bedeutung gewinnen, weil darüber eben der Haupttransport geschieht."
Das ist ein Mittel, das nochmal härter ist als das Einlaufverbot und auch nochmal wirksamer als das Verbot, russisches Öl in die EU einzuführen, weil man geht hier auf die gesamte Lieferkette, die ja weltweit Abnehmer insbesondere in Asien, Indien und China mit russischem Öl beliefert und diese gesamte Lieferkette mit diesen Tankern jetzt ‚radioaktiv‘ wird. Das heißt alle möglichen Dienstleister und Finanzdienstleister werden diese Schiffe nicht mehr beliefern mit ihren Dienstleistungen und dadurch werden sie sozusagen radioaktiv."
— Dr. Sascha Lohmann, Stiftung Wissenschaft und Politik
"Das ist ein Hase-und-Igel-Spiel"
"In der Schattenflotte und den russischen Ölexporten sieht die EU eine Möglichkeit, Russland empfindlich unter Druck zu setzen", sagt Sebastian Bruns vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Der Kreml habe Russland auf Kriegswirtschaft umgestellt. Diese sei darauf angelegt, das Militär weiter auszubauen. Außer seinen Rohstoffen habe Russland wenig anderes, um die Staatskasse zu füllen. Insofern sei der Ansatz der EU, russische Öl-Exporte ins Visier zu nehmen, "ein probates Mittel" um Druck auszuüben, so der Experte für maritime Sicherheit weiter. Bruns meint, die neuen Zwangsmaßnahmen hätten lediglich einen "kurz- und mittelfristigen Effekt". Russland könne einfach andere, nicht-sanktionierte Tanker für die Öl-Exporte chartern. "Das ist ein Hase-und-Igel-Spiel."
Russische Marineschiffe sollen Tanker eskortieren
Das neue Sanktionspaket fällt in eine Zeit, in der Russland seine militärischen Aktivitäten in der Ostsee deutlich verstärkt. Marineschiffe der Schwarzmeerflotte würden unter anderem aus dem Mittelmeer in die Ostsee verlegt, die russischen Luftraum-Patrouillen über dem Binnenmeer hätten zugenommen, erfuhr der NDR aus Sicherheitskreisen. Im April führte Russlands Baltische Flotte Seemanöver durch, bei denen laut russischem Verteidigungsministerium der Schutz ziviler Schiffe vor dem Zugriff gegnerischer Kräfte geübt wurde.
Zudem gibt es Hinweise, dass Russland dazu übergeht, Tanker von Marineschiffen eskortieren zu lassen. Der russische Präsidentenberater und Leiter der russischen Seefahrtsbehörde, Nikolai Patruschew, teilte kürzlich auf "Telegram" mit, dass die russische Baltische Flotte "zuverlässig die Navigationssicherheit stärkt, Provokationen der Seestreitkräfte feindlicher Staaten abwehrt und ihre Fähigkeiten durch Training in der Ostsee und auf langen Reisen verfeinert".
Zwischenfälle im Golf von Finnland
"Die Ostsee ist ein zentraler Hotspot der Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen geworden", sagt Sicherheitsexperte Bruns. Gleich mehrere Zwischenfälle im Golf von Finnland in der vergangenen Woche scheinen die These zu untermauern. Dort spitzte sich die Lage fast täglich weiter zu, ein regelrechtes Katz- und Maus-Spiel begann. Im Zentrum: Der Schiffsverkehr. Beim ersten Vorfall war der nach NDR Informationen nun auf der aktuellen EU-Sanktionsliste stehende Tanker "Jaguar" offenbar ins Visier estnischer Einsatzkräfte geraten. Der genaue Hergang ist noch nicht eindeutig geklärt, in sozialen Medien kursiert ein auf der Brücke der "Jaguar" aufgenommenes Video, das den Vorfall dokumentieren soll.
Russische Su-35 verletzt estnischen Luftraum - "ungewöhnlich"
Als sich ein Helikopter und ein estnisches Patrouillenboot dem Tanker nähern, taucht am Himmel plötzlich ein russischer Kampfjet auf und überfliegt das Schiff in niedriger Höhe. Von einer Luftwaffenbasis in Estland steigt daraufhin ein portugiesischer F-16-Kampfjet auf. Am Ende geht der Vorfall glimpflich aus, die "Jaguar" kann ihre Fahrt nach Primorsk fortsetzen. Bis zu einer Minute lang soll die russische Maschine im estnischen Luftraum gewesen sein. "Dass Russland in NATO-Luftraum eindringt, ist ungewöhnlich", sagte eine mit den Vorgängen vertraute Person dem NDR. Ungewöhnlich sei auch, dass keinerlei Entschuldigungen oder Erklärungsversuche seitens offizieller russischer Stellen abgegeben wurden.
Russland setzt aus estnischem Hafen kommenden Tanker fest
Kurz darauf setzte Russland laut estnischen Angaben einen aus einem estnischen Ostseehafen auslaufenden Tanker fest. Die unter liberianischer Flagge fahrende "Green Admire" habe den Hafen von Sillamae durch eine ausgewiesene Fahrrinne verlassen, die russische Hoheitsgewässer durchquere, hieß es vom estnischen Außenministerium. Diese Passage sei zwischen Estland, Finnland und Russland vereinbart worden, um Untiefen in estnischen Gewässern zu umfahren. Die NATO-Verbündeten seien über den Vorfall informiert, teilte Estlands Außenminister Margus Tsahkna mit und stellte einen direkten Zusammenhang zu dem Vorgehen Estlands gegen Russlands Schattenflotte her.
Russland lässt die Maske fallen und gibt entgegen früherer Beteuerungen zu, dass die Schattenflotte ein wesentlicher Teil der russischen Kriegswirtschaft ist."
— Dr. Sebastian Bruns, Institut für Sicherheitspolitik, Uni Kiel
"Hohe Form der Staatskunst geboten"
All diese Dinge zeigen für den Kieler Experten für maritime Sicherheit, Bruns, vor allem eines: "Russland gibt ein deutliches Zeichen: Finger weg von diesen Tankern." Zugleich sende es das Signal: "Wir wissen um die Bedeutung der Schattenflotte für uns - und wir sind bereit, sie sichtbar zu verteidigen", so Bruns. Der Westen stecke in einem Dilemma. Es sei sein erklärtes Ziel, eine direkte kriegerische Auseinandersetzung mit Russland zu vermeiden. Nun sei eine "hohe Form der Staatskunst geboten". Es gehe darum, Russland klarzumachen, dass man entschlossen ist, aber gleichzeitig nicht überzureagieren.
Trügerische Ruhe
Neben dem Rohstoff-Transport erfüllen die Schattenflotte-Tanker nach Meinung vieler westlicher Staaten noch eine andere Funktion: Spionage gegen NATO-Ostsee-Staaten und Sabotage von Unterwasserkabeln. Allerdings waren in der Ostsee in den vergangenen Monaten keine neuen Beschädigungen an kritischer Infrastruktur aufgetreten, wie dies noch gehäuft gegen Ende des Jahres 2024 und im Januar 2025 der Fall war. Dagegen waren NATO-Ostsee-Anrainer Anfang des Jahres unter anderem mit der Mission "Baltic Sentry" vorgegangen, die mehr Marinepräsenz in die Ostsee brachte.
"Es wird gegenseitig bedrängt"
Die Reaktionszeit der NATO-Ostsee-Anrainer auf verdächtige Vorgänge in der Ostsee soll sich laut Insidern von 17 auf etwa eine Stunde reduziert haben. Die Aktivitäten beider Seiten seien aber ungeachtet der scheinbaren Beruhigung unverändert hoch geblieben. "Da passiert recht viel", sagt eine mit den Vorgängen vertraute Person dem NDR. Es gebe "anders als noch vor fünf Jahren ein aggressiveres Abtasten. Es wird gegenseitig bedrängt."
Dieses Thema im Programm:
NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 20.05.2025 | 19:30 Uhr