
Mecklenburg-Vorpommern Lebensgefahr: So trainieren Höhenretter an Rügens Kreideküste
Der Königsstuhl auf Rügen: Immer wieder begeben sich Wanderer in der Kreidewand in Gefahr. Höhenretter der Feuerwehr in Sassnitz trainieren für den Ernstfall. Sie wissen: Ein Happy End ist nicht garantiert.
Martin Fischer wird hier gleich planmäßig verunglücken. Er steht direkt an der Kliffkante an Rügens Kreideküste. Unter ihm: 60 Meter Nichts. Da unten schwappt die smaragdgrüne Ostsee schmatzend an die dicken Kieselsteine und Felsen. Fischer ist Höhenretter bei der Freiwilligen Feuerwehr in Sassnitz auf Rügen (Landkreis Vorpommern-Rügen). Zuletzt hat er selbst an der Steilküste eine Frau gerettet, die in den Kreidefelsen ihrem Handy hinterhergeklettert war. Heute nun ist er der Patient, wie die Feuerwehrleute sagen; gleich muss er da runter, ein Kamerad soll ihm dann zur Hilfe kommen.
"Wir haben hier schon alles erlebt. Auch unschöne Sachen", sagt Feuerwehrmann Torsten Knak. "Rettung bis Bergung. Alles, was lebt, wird gerettet. Alles, was nicht mehr lebt, wird geborgen." Er sichert mit Kollege Bernd Lüthke das Dreibein. Das Gestell wird gleich besonders wichtig. Ihre roten Plastikhelme und die leuchtend roten Arbeitsanzüge fallen auf inmitten der jungen grünen Buchenblätter ringsum. Jeder trägt hier einen Rettungsgurt.

Feuerwehrmann Martin Fischer spielt, an Seilen gesichert, einen Verunglückten hoch oben an der Steilküste.
Höhenretter üben 80 Stunden für den Ernstfall
Karabiner, Seile, Rollen, Splinte, Knoten, Gurte: Knak und Lüthke haben ihr Arbeitsgerät aufgebaut. Dicke Leinen rund um dicke Buchenstämme sollen das Dreibein zusätzlich sichern. Höhenretter Martin Fischer, der den Verunglückten spielt, hat sich längst eingeklinkt: "Die Überwindung kommt jetzt, wenn ich mich über den Baum hier an der Kante runterlassen muss." Ein dicker Stamm liegt quer direkt am Kliff.
Jetzt entscheidet nur noch Einsatzleiter David Rohde. "Sicherheit vorhanden?", fragt er. "Sicherheit vorhanden", ist die Antwort und das Zeichen für Martin Fischer: es geht los. Jetzt redet niemand mehr viel. Kurze, leise Absprachen. "Wichtig ist", schnauft einer, "dass das Sicherungsseil dran ist", während Fischer langsam hinter der Kliffkante verschwindet. Zehn Meter tiefer soll er gleich hängen. Dann kommt laut Übungsdrehbuch die Rettung.
Feuerwehr-Drohne hilft bei der Suche
Mindestens zehn Einsätze wie bei dieser Übung gibt es im Nationalpark rund um den Königsstuhl jedes Jahr. Gut 1,5 Millionen Besucher kommen jährlich zur Kreideküste. Einige Spaziergänger ignorieren die eindringlichen Warnungen, abseits der drei Abstiege an der Kreideküste auch nur daran zu denken, hier rumzuklettern. Die Kreide-Formation ist an einigen Stellen über 100 Meter hoch und bröckelig. Fischer und seine Kameraden üben 80 Stunden im Jahr, um Menschen an Rügens Kreidefelsen helfen zu können.

Suche aus der Luft: Die Höhenretter der Feuerwehr haben eine Ausnahmegenehmigung und dürfen Drohnen einsetzen, um an Rügens Kreideküste nach Verunglückten zu suchen.
Die Feuerwehrleute bringen zu jedem Einsatz besondere Technik mit. Ein Amphibienfahrzeug gehört dazu und eine Drohne. Die Kameraden sind die einzigen, die hier im Nationalpark überhaupt Drohnen starten dürfen. Sie helfen bei der Suche. "Viele Verunglückte können uns nur ungefähr sagen, wo sie sich befinden, wenn ihr Handy überhaupt funktioniert. Und da wir hier über die Kreidefelsen meist gar keine Sicht haben, schicken wir dann die Feuerwehrdrohne nach oben", erläutert Einsatzleiter Rohde. Die Fahrt durch den Buchenwald und die Suche nach Personen sind die größten Zeitfresser. Aber: Sicherheit steht an erster Stelle.
Schweißtreibender Einsatz ohne Sichtkontakt
Das Videobild der Drohne zeigt den Blick von See her. Martin Fischer hängt als rotes Strichmännchen sprichwörtlich in den Seilen. Oben an der Kaikante, etwas versetzt, ist jetzt Robert Meyer dran. Er soll den Patienten hochholen, dazu muss er erstmal zu ihm hinunter. Rollen klickern, Karabiner klimpern, Seile schnurren über das Dreibein. "Auch direkt an der Kante können irgendwo scharfe Steine sein, die das Seil durchscheuern", sagt Rohde, darum das Dreibein. Per Funk und Drohne verfolgen die Feuerwehrleute, was zehn Meter unter ihnen geschieht. Später nutzen sie das Video zur Auswertung. Direkten Sichtkontakt gibt es nicht. Ein ganzes Bündel von blauen, roten und gelben straffen Seilen sichert jetzt Dreibein, Patient und Retter.
Robert Meyer seilt sich leicht versetzt ab, damit nichts auf den Patienten herabfällt. Es ist ein schweißtreibender Einsatz. Meyer muss seinen Kameraden Fischer in den eigenen Rettungsgurt sozusagen mit einhängen. Ein Szenario, fast genauso wie neulich bei der Frau, die ihrem Mobiltelefon hinterhergeklettert war und sich gerade so noch halten konnte. Da hatten die Retter auch noch eine Rettungshose eingesetzt.

Spektakulär und lebensgefährlich. Rügens Kreideküste ist stellenweise über 100 Meter hoch. Immer wieder ignorieren Spaziergänger Warnungen, dort zu klettern.
"Ein anstrengendes Ehrenamt"
Für die Männer von der Freiwilligen Feuerwehr in Sassnitz ist diese Übung in jeder Hinsicht überlebenswichtig. Jederzeit kann der nächste unvorsichtige Spaziergänger in Not geraten. "Wir kommen dann teilweise von der Arbeit, müssen alles stehen und liegen lassen. Da geht viel Zeit drauf, es ist ein anstrengendes Ehrenamt", sagt Einsatzleiter Rohde.

David Rohde ist Einsatzleiter bei den Höhenrettern der Freiwilligen Feuerwehr in Sassnitz auf Rügen.
"Das ist hier nicht immer Happy-End-belastet"
Unterhalb der Kliffkante ist Schnaufen zu hören. Martin Fischer und sein Retter Robert Meyer wuchten sich kurz darauf über die Klippe. Schweiß steht ihnen auf der Stirn. "Patient ist oben", ruft Rohde. Übung erfolgreich abgeschlossen. Zusammenpacken, Ausrüstung verladen, Erleichterung.
Torsten Knak ist seit 1994 bei den Höhenrettern. "Müsste jetzt schätzen, aber: Auf die Anzahl der geretteten Personen kommt auch fast die gleiche Anzahl, die nur noch zu bergen waren. Also: das ist hier nicht immer Happy-End-belastet."
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NDR 1 Radio MV | Der Tag | 21.05.2025 | 17:15 Uhr