
Mecklenburg-Vorpommern Flucht nach Linstow 1945: "Hier hat die Not ein Ende"
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kommen 73 geflüchtete Familien aus dem Osten in dem damals winzigen Ort Linstow an. Hier bauen sie sich im Zuge der Bodenreform ihre Siedlung und neues Leben auf.
Gertrud Horn und Ernst Reimann stammen aus Wolhynien, einem Gebiet in der heutigen Ukraine. Ihre Väter kämpfen im Zweiten Weltkrieg an der Front, als sie als Kinder ihre Heimat verlassen. "Da mussten wir raus", erinnert sich Ernst Reimann. Bei minus 21 Grad und 20 Zentimeter Schnee. "Die russischen Panzerspitzen haben schon auf unsere Kreisstadt geschossen."
Bodenreform nach Kriegsende
Nach Wochen auf der Flucht kommt er 1945 als Sechsjähriger in einem Auffanglager in Malchow an. Dort erzählte man sich, dass im Zuge der Bodenreform das rund 20 Kilometer entfernte Gut Linstow aufgelöst wird und sie da siedeln könnten, erinnert sich Ernst Reimann. Der Ort ist winzig, liegt malerisch am Flüsschen Nebel. Es gibt ein kleines Gutshaus samt Scheunen und Stallungen, ansonsten gerade einmal zehn Häuser.
Endlich Essen, die Not hat ein Ende

Mit der Ankunft der geflüchteten Familien verdreifacht sich die Einwohnerzahl in Kieth, wie Linstow damals heißt.
Ein paar Frauen und Männer machen sich damals vom Lager aus auf den beschwerlichen Fußmarsch, um die Lage zu erkunden. Als sie über einen Hügel kommen, hinter dem das Dorf liegt, entdecken sie zahlreiche Mieten auf den Feldern. Mit Steinen und Hölzern brechen sie die gefrorenen Erdhaufen auf, schildert der heute 86-Jährige seine Erinnerungen. "Nun hat die Not ein Ende - hier lagern Kartoffeln - wir haben zu essen." Das sei der Ausruf eines Mannes gewesen, so Ernst Reimann.
Zwei Tage später kommen die anderen Frauen und Kinder nach. Notdürftig werden sie in Stallungen und Scheunen untergebracht. Wassersuppe mit Wruken - also Steckrüben - ist ihre Hauptmahlzeit. Es ist kalt im Dezember 1945.
Einen Neuanfang wagen
Unter den Flüchtlingen aus Wolhynien spricht sich schnell herum, dass einige Landsleute in Linstow den Neuanfang wagen wollen. Und so kommen in den nächsten Wochen und Monaten insgesamt 73 Familien in dem kleinen Ort in der Nähe von Krakow am See an. Auch Gertrud Horn schafft es hierher. Sie ist damals drei Jahre alt und kommt mit ihrer schwangeren Mutter und der Schwester in Kieth, wie Linstow damals heißt, an.
Einheimische nannten sie "die Russen"
Die Einheimischen beäugen die Neuankömmlinge skeptisch: "Die Russen! So wurden wir genannt", schildert Gertrud Horn die Vorurteile. Sie waren zwar Deutsche, "aber natürlich war unsere Sprache ein bisschen anders, gespickt mit polnischen, russischen und ukrainischen Vokabeln und wir haben andere Sachen gekocht - Piroggen zum Beispiel", so die heute 83-Jährige.
Wolhynier gehen fleißig ans Werk

Traditionell aus Holz, Lehm, Schilf und Stroh errichten die Umsiedler ihre Häuser in Linstow.
Aber die Linstower hätten eben auch gesehen, wie fleißig die Wolhynier sind. Wie sie sich ihre typischen Holzhäuser mit selbst gemachtem Werkzeug bauen, die Felder bestellen. "Außerdem waren wir ja in der Überzahl, da gab es keine großen Streitigkeiten", sagt Gertrud Horn.
Eigene Häuser aus Holz, Lehm, Schilf und Stroh
Die Flüchtlingsfamilien bekommen als sogenannte Umsiedler ungefähr zehn Hektar Land. Wie ihre Vorfahren errichten sie ihre Holzhäuser in traditioneller Bauweise aus Holz und Lehm. Das erforderliche Baumaterial holen sie sich aus den umliegenden Wäldern. Aus Baumstämmen sägen sie Bohlen und Bretter. Das Dach wird mit Stroh und Schilf gedeckt.
Wolhynische Spuren in Linstow
Seit einigen Jahrzehnten erinnert ein Verein mit einem Umsiedlermuseum in Linstow an die Anfangszeit der Wolhynier. Ein traditionelles Holzhaus, eingerichtet wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigt heute noch die Beschwernisse der ersten Jahre nach der Flucht. Ernst Reimann aber erinnert sich vor allem an die Schrecken des Krieges: "Als Kind", sagt er, "ist mir der Krieg so unter die Haut gegangen, ich hatte so eine Angst." Dass wir heute noch Frieden haben, darüber sei er froh. "Möge es doch immer so bleiben, dass es meinen Kinder und Enkelkinder nicht so geht wie mir."
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NDR 1 Radio MV | Nordmagazin | 16.05.2025 | 19:30 Uhr