
Berlin Der lange Weg zur Umbenennung
Nach mehr als 20 Jahren Streit wird die Treitschkestraße in Steglitz umbenannt – ihr Namensgeber gilt vielen als ein Bereiter des modernen Antisemitismus. Doch die Umbenennung stößt bis heute auf Widerstand. Von A. Bordel und J. Wintermantel
Die Treitschkestraße in Steglitz ist eine ruhige, unscheinbare Wohnstraße gleich hinter dem Steglitzer Boulevard. Spuren des Streites, der sich um diese Straße seit nunmehr zwei Jahrzehnten abspielt, findet man nur beim genauen Hinschauen. In luftiger Höhe, gleich über dem Straßenschild "Treitschkestraße" – klebt ein kleines Männchen aus Korken und hält über seinem Kopf - wie ein kleiner Gewichtheber – ein alternatives Straßenschild. "Betty-Katz-Straße" steht darauf. So wird diese Straße bald heißen.
Betty Katz war die Direktorin des Jüdischen Blindenheims in der nahegelegenen Wrangelstraße. 1944 wurde sie in Theresienstadt von den Nazis ermordet. Nach mehr als 20 Jahren Diskussion und mehreren gescheiterten Anläufen hat die Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf (BVV) Anfang des Jahres die Umbenennung der Straße beschlossen. Denn sie erinnert an Heinrich von Treitschke – und den hielt die politische Mehrheit in Steglitz-Zehlendorf zuletzt nicht mehr für einen geeigneten Namensgeber.
Die vielen Jahre des Streites verdeutlichen, wie viel Konfliktpotenzial eine Straßenumbenennung birgt.
Wer war Heinrich von Treitschke?
Heinrich von Treitschke (1834 – 1896) war Historiker, Publizist und Politiker im Deutschen Kaiserreich, sowie Abgeordneter im Preußischen Landtag und im Reichstag. Besondere Bedeutung kommt ihm im Zusammenhang mit dem sogenannten "Berliner Antisemitsmusstreit" zu, einem öffentlichen Konflikt um die gesellschaftliche Stellung jüdischer Bürger im Deutschen Reich.
Der Streit wurde mit ausgelöst durch einen Aufsatz Treitschkes, in dem er unter anderem schrieb: "Die Juden sind unser Unglück". Dieser Satz wurde später vom nationalsozialistischen Hetzblatt "Der Stürmer" übernommen und gilt heute als Symbol antisemitischer Hetze. In einer seiner Schriften beschrieb Treitschke jüdische Deutsche etwa als "fremdes Volkstum" und forderte ihre Assimilation. Viele Historiker:innen sehen in ihm einen Wegbereiter des modernen Antisemitismus – auch wenn er sich selbst nicht als Antisemit verstand.

Berliner Antisemitismusbeauftragter empfahl Umbenennung
Vor allem in konservativen Kreisen wird Treitschkes Bedeutung mitunter anders bewertet. Die Argumentation: Treitschkes Äußerungen müssten im Kontext des 19. Jahrhunderts gelesen werden. Seine Äußerungen seien zeittypisch, der Antisemitismus seiner Zeit sei nicht mit dem rassistischen, eliminatorischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts gleichzusetzen – und daher eben auch nicht mit der Judenvernichtung der Nationalsozialisten.
Ein Dossier zu Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin, das 2021 im Auftrag des Ansprechpartners des Landes Berlin zu Antisemitismus erstellt wurde, spricht eine klare, knappe Handlungsempfehlung aus: "Umbenennung". Die Grundlage dafür: "Treitschke gilt als Mitbegründer des modernen politischen und kulturellen Antisemitismus, auch wenn er sich selbst nicht als Antisemit verstand und rassistischen Motiven im Antisemitismus distanziert gegenüberstand."
Die lange Geschichte der Umbenennung
Schon im Jahr 2000 sprach sich die hier ansässige Patmos-Kirchengemeinde erstmals für eine Umbenennung aus – damals ohne politischen Erfolg. Die erforderliche Mehrheit scheiterte an CDU und FDP. 2006 beschlossen CDU und Grüne in der BVV, Hinweistafeln in der Straße aufzustellen, um auf den Hintergrund des Namensgebers aufmerksam zu machen. 2008 wurden an diesem Platz Informationsstelen angebracht und kurz darauf der anliegende Platz in Harry-Bresslau-Park benannt. Bresslau – jüdischer Historiker – hatte Treitschkes Positionen entschieden widersprochen.
2012 wurde auf Initiative von Grünen und CDU die Anwohnerschaft befragt. Eine deutliche Mehrheit von 74 Prozent sprach sich damals gegen die Umbenennung aus. Bei einer weiteren Befragung gut zehn Jahre später waren es sogar 85 Prozent. 2022 wurde das Thema erneut in die BVV eingebracht. Diesmal sprach sich die politische Mehrheit für die Umbenennung aus. Im Januar 2025 war es dann so weit: Mit einem BVV-Beschluss wurde das Bezirksamt gebeten, die Treitschkestraße in Betty-Katz-Straße umzubenennen.
Bevor es zur Entscheidung kam, tagte der Kulturausschuss unter prominenter Beteiligung. Zu Gast war unter anderem der Beauftragte des Bundes für Antisemitismus, Felix Klein, der sich für die Umbenennung aussprach. Letztlich stimmte auch die CDU dem Beschluss zu. Nicht weil sie plötzlich doch für eine Umbenennung war. Vielmehr, um auszudrücken, dass sie auch Betty Katz für eine ehrenwerte Namensgeberin hält.
CDU: Treitschke ist "umstritten"
Claudia Wein ist eine der prominenten Gegnerinnen der Umbenennung. Wein ist kirchenpolitische Sprecherin der CDU im Abgeordnetenhaus und Wahlkreisabgeordnete von Steglitz-Zentrum. Vor dem BVV-Beschlusses erregte sie großes Aufsehen mit einem Brief, den sie an die Anwohnenden der Treitschkestraße verschickte. Darin versicherte sie, dass ihre Partei den Willen der Anwohnenden respektiere und sich gegen eine Umbenennung einsetze. Treitschke und seine Rolle in der Geschichte bezeichnete sie darin als "umstritten". Daraufhin wurde ihr vorgeworfen, den Antisemitismus Treitschkes zu verharmlosen.
"Ich finde diese Vorwürfe unangemessen", sagt Wein im Interview mit rbb|24 und bleibt bei ihrer Formulierung. "Er war Antisemit, und zwar vor allem in kultureller Hinsicht. Er war kein Rassist in dem Sinn, wie später die Nazis Rassisten waren." Weins Argument: Treitschke hätte seine Schriften weit vor den Nazis verfasst, einzelne Auszüge seiner Veröffentlichungen seien später missbraucht worden. Als deutscher Nationalist sei sein Anliegen gewesen, dass die Juden konvertieren und sich stärker der deutschen Gesellschaft anpassen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass er den Judenmord wollte", so Wein.
Für eine Neubenennung käme Treitschke heute in keinem Fall in Frage, sagt Wein. Trotzdem hält sie den Straßennamen bis heute für erhaltenswert, "weil wir an dieser Stelle sehen können, was aus einer Biografie werden kann." Statt einer Umbenennung hätte sich Claudia Wein eine Überarbeitung der Informationsstelen am Bresslau-Park gewünscht, um die gesellschaftliche Diskussion über Treitschke nicht abreißen zu lassen, wie sie sagt. "Das was geschehen ist, ist geschehen – auch, wenn ich die Schilder abmache. Und wir wissen ja, dass unbewusste Vorgänge, unbewusste Strömungen eigentlich eine größere Wirkung haben können als Dinge, die an der Oberfläche sind."
Grüne: Umbenennung ist "Teil des Einsatzes gegen Judenhass in Berlin"
Daniel Eliasson widerspricht vehement. Er ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen in der BVV Steglitz-Zehlendorf und engagiert sich darüber hinaus seit Jahren in der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA).
"Heinrich von Treitschke war – und daran gibt es keinen Zweifel – ein Antisemit", sagt Eliasson. "Wenn man über ihn schreibt, er sei umstritten gewesen, und alles andere weglässt, wird das dem Ernst der Lage nicht gerecht." Eine Straße nach jemandem zu benennen, sei eben mehr als eine reine Information. Es sei eine Ehrung. "Und Antisemiten ehrt man nicht."
Auf das Argument, durch die Umbenennung werde ein Teil der Erinnerungskultur im Bezirk getilgt, erinnert Eliasson an den Besuch des Antisemitismus-Beauftragten Felix Klein in der entscheidenden Sitzung des Kulturausschusses. "Er hat dort erklärt: wenn eine Straße, die nach einem klaren Antisemiten benannt ist, weiter existiert, dann ist das nicht einfach nur Symbolik, sondern dann stärkt das den heutigen Alltags-Antisemitismus. Darum ist diese Umbenennung auch nicht einfach nur symbolisch, sondern ein Teil des Einsatzes gegen Judenhass in Berlin."
Geteiltes Stimmungsbild bei Anwohnenden
Hört man sich unter den Anwohnenden um, reichen die Reaktionen von schulterzuckendem Desinteresse über vorsichtige Zustimmung bis hin zur Wut über die Berliner Bürokratie, die doch schon mit deutlich einfacheren Aufgaben überfordert sei. "Die Umbenennung finde ich grundsätzlich gut, weil es kritische Personen gibt, die man vielleicht nicht mit einem Straßennamen ehren sollte", sagt Anwohnerin Anne. "Betty Katz - gebe ich zu - kenne ich gar nicht. Ich finde es aber gut, dass Straßen nach Frauen benannt werden."
Claus-Peter Clostermeyer, der seit 20 Jahren in der Straße lebt und sich viel mit dem Namensgeber seiner Straße beschäftigt hat, sieht das etwas anders. "Ich halte das für Symbolpolitik – speziell von Leuten, die hier nicht in der Treitschkestraße wohnen. Ein Name kann nicht auf Dauer getilgt werden, das ist meine Erfahrung", so Clostermeyer. Er argumentiert weiter: Ein Autor von über 200 Schriften dürfe nicht auf einen Satz reduziert und deshalb verurteilt werden. Er mache sich aber vor allem Gedanken über den bürokratischen Aufwand: "Jeder ärgert sich, dass es keine Hilfestellung gibt – man muss den Personalausweis ändern, alle möglichen Dokumente. Jetzt wird der Name geändert, aber die Bürger sollen selbst schauen, wie sie damit zurechtkommen."

Bezirk will bürokratisches Chaos verhindern
Damit die Umbenennung nicht im Chaos endet, hat das Bezirksamt bürokratische Entlastung angekündigt. Dazu soll ein sogenannter "Bürgeramtskoffer" eingesetzt werden – eine Art mobiles Bürgeramt. Damit sollen die Behörden ihre Bürgerdienste "standortunabhängig, bürgerfreundlich und besonders niedrigschwellig" anbieten können, schreibt das Bezirksamt.
Die Umbenennung der Treitschkestraße in Betty-Katz-Straße soll voraussichtlich im Juni im Amtsblatt veröffentlicht werden. Sollten keine Widersprüche eingehen, könnte die Umbenennung im Oktober dieses Jahres vollzogen werden - samt neuer Straßenschilder.