Stolpersteine

Erinnerungskultur Der "Stolperstein-Effekt"

Stand: 29.05.2025 20:53 Uhr

Sie sollen an Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Doch zuletzt wurden etwa in Kaiserslautern Stolpersteine beschädigt oder gestohlen. Die Gesellschaft reagiert darauf schockiert, aber auch kreativ.

Etwa 120.000 Stolpersteine erinnern mittlerweile in ganz Europa an Menschen, die Nationalsozialisten einst verfolgten und ermordeten. Meist wird der faustgroße Betonblock vor dem ehemaligen Wohnhaus des Opfers in den Boden eingelassen, eine Messingplatte nennt den Namen, Lebensdaten und letzten Verbleib. Damit soll "den gepeinigten Menschen ihr Name, ein Gesicht und ein Platz in der Mitte der Gesellschaft wiedergegeben" werden, lautet das Ansinnen des Initiators und Künstlers Gunter Demnig und seiner 14 Mitarbeitenden.

Als kürzlich in Kaiserslautern vier solcher kleinen Mahnmale in der Fußgängerzone mit roher Gewalt entwendet worden waren, sammelte die SWR-Journalistin Alexandra Dietz in einer Straßenumfrage die Meinung von Passanten dazu ein: "Es zeigt, wie es in unserer Gesellschaft aussieht" oder "es ist widerlich" lauteten einige der Antworten. Eine junge Frau brach nach wenigen Worten in Tränen aus: "Ich finde es so schlimm! Mir und meiner Generation nimmt es jegliche Perspektive, wenn ich weiß: In der Gesellschaft, in allen Schichten, gibt es Leute, die andere so sehr verachten."

Alle Passanten, die Dietz für die Umfrage angesprochen habe, habe sie als sehr schockiert und angefasst von dem Diebstahl wahrgenommen: "Sie haben diese Art der Erinnerung als extrem wichtig empfunden. Und dass es eigentlich noch viel mehr davon geben müsste."

Vorfälle nur ungenau erfasst

Anders sehen es offenbar Täter in Magdeburg, Lünen, Menden, Zeitz, Gotha, Cottbus, Weimar oder Forst in der Lausitz. In diesen Städten wurden allein in diesem Jahr bereits Stolpersteine entwendet oder beschädigt. Eine offizielle, vollständige Statistik darüber gibt es nicht.

Denn Beschädigen oder Stehlen von Stolpersteinen ist in der Kriminalitätsstatistik für politisch motivierte Straftaten nicht "als bundesweit gültiger Katalogwert vereinbart", wie eine Sprecherin des Bundeskriminalamts erklärt. So zählen beschädigte oder entwendete Stolpersteine zwar als politische Straftat, falls eine Ermittlungsbehörde davon Kenntnis erlangt. Höchstens über die Inhalte der Freitexte, die Ermittler zu den Straftaten formulieren, lässt sich mittels "händischer Durchsicht", wie es die Polizei Hamburg nennt, eine Straftat zu einem Stolperstein zurückverfolgen.

So zählte das Bundeskriminalamt 2024 neun Diebstähle und 25 Sachbeschädigungen. In Baden-Württemberg waren es vier Stolpersteine, in NRW sieben, in Sachsen-Anhalt 18 und Berlin registrierte "ein Fallaufkommen zum Nachteil von Stolpersteinen" in Höhe von sechs im vergangenen Jahr. Niedersachsen erfasste im Jahr 2024 Fälle "im unteren zweistelligen Bereich", aber "ungefähr etwa doppelt so hoch wie noch im Vorjahr".

Mehrere Behördensprecher betonen die Ungenauigkeit der Erfassung. Ein Viertel der Landeskriminalämter gibt an, Stolperstein-Delikte gar nicht auswerten zu können oder erachtet es als zu hohen Aufwand.

Auch da, wo die Stolpersteine entstehen, lässt sich die Zahl nicht genau beziffern: "Wir ersetzen nicht mehr als insgesamt acht bis maximal zehn Stolpersteine im Monat, die sich diesen Fällen zuordnen lassen", erklärt Katja Demnig, Stellvertreterin von Gunter Demnig und Geschäftsführerin seiner Stiftung. "Das ist vergleichsweise sehr wenig, wenn man bedenkt, dass inzwischen knapp über 120.000 Stolpersteine europaweit verlegt wurden."

RIAS: 102 antisemitische Vorfälle in Bezug auf Stolpersteine

Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) dokumentierten 102 antisemitische Vorfälle in Bezug auf Stolpersteine im vergangenen Jahr, wie tagesschau.de vor der Veröffentlichung kommende Woche erfuhr. 2023 waren es noch 70. Dazu zählten Beschädigungen, Beschmutzungen oder Entwendungen. Zugrunde liegen Meldungen durch Betroffene, Zeugen und andere Organisationen.

"Es lässt sich nicht empirisch mit Zahlen belegen", sagt auch Nikolas Lelle von der Amadeu Antonio Stiftung, die antisemitische Vorfälle in Deutschland mit Hilfe von Pressemeldungen oder Informationen von Initiativen und Projekten dokumentiert. "Mein Eindruck ist aber, dass solche Vorfälle in den vergangenen anderthalb Jahren zugenommen haben." Lelle nennt das erschreckend: "Allein schon deshalb, weil es in einem größeren gesellschaftlichen Klima steht, in dem antisemitische Straftaten, Schmierereien, Parolen immer mehr im Stadtbild sichtbar werden."

"Es ist der Rechtsruck der Gesellschaft"

Warum machen die Täter das? Auch das ist schwer zu beantworten: Bislang sind kaum Täter identifiziert worden, somit bleiben auch ihre Beweggründe unbekannt. Wenn, dann gehörten sie dem rechtsextremen Milieu an, wie junge Täter Anfang 20, die 2015 in Salzburg verurteilt wurden. "Es geht um Neonazis, die Erinnerungskultur schlimm finden; die einen Schlussstrich ziehen wollen unter dem, was die Vergangenheit ist; die etwas tun wollen gegen diese Erinnerung an die Opfer der Shoah und die Opfer des Nationalsozialismus", vermutet Lelle. "Es ist der Rechtsruck der Gesellschaft, der auch hier Ausdruck findet."

Hat die Beschädigung und der Diebstahl von Stolpersteinen nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauf folgenden Beginn von Israels Krieg im Gazastreifen zugenommen? In Zeitz in Sachsen-Anhalt etwa verschwanden ausgerechnet am ersten Jahrestag des Angriffs zehn Stolpersteine. "Wir sehen dieses Problem in Gedenkstätten. Es ist selten, aber wir erleben durchaus auch, dass die Erinnerungskultur von der linken Seite angegriffen wird", sagt Lelle.

Die Pseudo-Logik dahinter: Die deutsche Erinnerungskultur legitimiere Israels Handeln. "Also wird sie mit angegriffen, weil diese Erinnerungskultur als etwas erscheint, das sozusagen 'von oben', etwa über den Begriff 'deutsche Staatsräson', oktroyiert sein soll", sagt Lelle.

"Dennoch: Wenn auf Stolpersteinen Parolen standen, stammten sie fast alle aus dem rechtsextremen Milieu. Es gibt nur einen Fall, bei dem 'BDS' auf dem Stein stand", sagt Lelle. BDS steht für "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" - eine internationale, politische Kampagne, die einen akademischen, kulturellen und wirtschaftlichen Boykott des jüdischen Staates Israel fordert.

Es ist eine Erinnerungskultur von unten

Wer mit seinem Handeln versucht, Erinnerungskultur zu verhindern, erreicht offenbar eher das Gegenteil, einen Streisand-Effekt - jenes Phänomen, bei dem ausgerechnet erst der Versuch, eine Information zu tilgen, die öffentliche Aufmerksamkeit darauf lenkt. Nun ist es der "Stolperstein-Effekt": Auf den Diebstahl von Zeitz folgten mehr Spenden als für den Ersatz benötigt.

In Berlin und Leipzig fertigten Menschen Repliken aus dem 3D-Drucker; und Schulen nahmen die Vorfälle in ihrer Stadt zum Anlass, sich im Unterricht des Themas anzunehmen. Lebendige Erinnerungskultur.

"Erinnerungskultur von unten"

"Das hat viel damit zu tun, was diese Stolpersteine sind: Es ist eine Erinnerungskultur von unten", findet Sozialphilosoph Lelle. Zwar beruhe die Idee des Stolpersteins auf der Idee Demnigs, also auf der Initiative eines einzigen Künstlers. "Aber er kommt nur, wenn ihn eine lokale Initiative vor Ort ruft, sich mit der Geschichte der Opfer ausgiebig befasst, recherchiert, Geld sammelt. Deshalb überrascht mich auch nicht, dass diese Initiative von unten wieder eine starke Antwort gibt, wenn Stolpersteine rausgerissen werden."

Auch in Kaiserslautern kam es zu dieser Antwort: Etwa 30 Teilnehmende einer "Critical Mass"-Aktion machten den Ort der verschwundenen als auch der übrigen Stolpersteine der Stadt zu Etappenzielen, erfuhren in kleinen Vorträgen deren geschichtliche Hintergründe. Repliken aus dem 3D-Drucker sind auch schon in Arbeit. Mehrere Spender sicherten bereits zu: Sie bezahlen die vier neuen Steine.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR Sachsen-Anhalt am 27. Januar 2025 um 18:00 Uhr.